Wie sahen die römischen Kaiser wirklich aus?
Die Corona-Pandemie hat viele Menschen angeregt, ihre Zeit mit mehr oder weniger sinnvollen „Quarantäne-Projekten“ zu füllen: basteln, Chinesisch lernen, die Wohnung streichen … Der kanadische Grafiker Daniel Voshart hat im Juni 2020 begonnen, die römischen Kaiser zu rekonstruieren. Und der Erfolg dieses Unternehmens hat ihn umgehauen.
Virtual Reality und die Rekonstruktion römischer Porträts
Voshart ist ein VR-Spezialist im Filmgeschäft. Er kann im Computer Personen generieren, die es so nicht wirklich gibt. (Stichwort: Deepfakes. Ein im Computer generierter Präsident Nixon hält eine Rede, die er in Wirklichkeit nie gehalten hat.) An römischer Geschichte war er nach eigener Aussage nie besonders interessiert. Doch es gab eine Schnittstelle: Die Idee, Statuen zu kolorieren, fand Voshart spannend. Auch in der Antike waren Marmorstatuen meist bunt bemalt, zu einem realistischen Porträt ist es da aber noch ein großer Schritt. Und den machte Voshart nun mithilfe von ArtBreeder, einem Programm, das sogenanntes maschinelles Lernen einsetzt. Eine Technik namens GAN (generative adversarial network) erlaubt es, mehrere Bilder, die man in das Programm lädt, zu kombinieren; heraus kommt eine Art „Kind“, ein Bild, das den „Elternbildern“ ähnelt, aber doch kein Klon ist. Je öfter das Programm so etwas mit weiteren Fotos macht, um so mehr lernt es, Gemeinsamkeiten der Bildnisse zu erkennen. Das hat Voshart für jeden der ersten 54 Kaiser von Augustus bis Carinus und Numerianus gemacht. In Photoshop ergänzte er dann die Haarfarbe, Hautfarbe und andere Details.
Die Ergebnisse aus diesem Hobbyprojekt kombinierte Voshart in 300 Überblickspostern mit den Porträts aller Kaiser. Er hoffte, diese Poster in den nächsten 12 Monaten zu verkaufen. Tatsächlich waren sie nach drei Wochen ausverkauft und Voshart hatte genug Geld, um sein Projekt weiterzuführen.
Probleme und Herausforderungen
Was technisch ganz einfach klingt, ist nicht nur eine Fleißarbeit. Zunächst braucht man ja die entsprechenden Daten: Woher sollen wir wissen, welche Hautfarbe ein Kaiser hatte, welche Farbe seine Haare, welche anderen besonderen Merkmale er aufwies?
Voshart stützte sich zum einen auf Schriftquellen, ergänzte dann aber hypothetisch. Septimius Severus und seine Söhne beispielsweise stammen aus Nordafrika. Es ist durchaus plausibel, dass sie einen dunkleren Hautteint hatten als Kaiser, die aus Norditalien kamen. Münzen und vollplastische Porträts lieferten nur ein Grundgerüst.
Bei dem Kaiser Aemilian (regiert 253) sieht die Quellenlage verheerend aus: Wir haben nur Münzen, die literarischen Quellen sind wohl weitgehend fiktiv – und trotzdem legt Voshart ein Porträt vor. Ist das legitim? Ja, das ist es! Voshart stützt sich vor allem auf die Münzen. Doch die Frage, wie nahe die antiken Darstellungen an der historischen Person waren, können wir nie endgültig beantworten. Auf seinem Blog stellt der Grafiker klar: „Mein Ziel war es nicht, die Kaiser zu romantisieren oder sie heroisch darzustellen. Wenn ich eine Büste / Skulptur ausgewählt habe, dann war mein Ansatz, die Büste zu bevorzugen, die zu Lebzeiten des Kaisers angefertigt wurde. Ansonsten wählte ich die Büste in der besten handwerklichen Qualität und wo der Kaiser nach den Stereotypen gemessen am unansehnlichsten wirkt. Meine Theorie ist, dass die Künstler sich darum bemühten, dem Herrscher zu schmeicheln.“ Ergo: Was nicht so hübsch ist, wird der Künstler nicht erfunden, sondern nur nicht wegretuschiert haben.
Doch Voshart verpasste seinen VR-Kaisern noch einen zusätzlichen Realitätstouch, indem er auch Fotos von modernen Menschen benutzte. Der Kaiser Maximinus Thrax scheint an einer Krankheit gelitten zu haben, die wir heute als Akromegalie kennen, er war daher besonders groß. Voshart fand einen in den 1970er und 1980er Jahren extrem erfolgreichen Profi-Wrestler, der unter der gleichen Krankheit litt: André the Giant. Mit den antiken Skulpturen und Münzbildern verschmolz auch ein Foto des 2,13 Meter großen Hünen zu den Gesichtszügen des antiken Kaisers.
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Nicht ideal, nicht perfekt: ein realistisches Porträt der römischen Kaiser
Spätestens hier kann man natürlich wieder fragen: Was hat das mit dem historischen Maximinus Thrax zu tun? Man fühlt sich bei manchen Bildern an Gangsta-Rapper Ice-T oder George Clooney erinnert. Dem Magazin „The Verge“ gegenüber stellte Voshart klar: „Was ich mache, ist die künstlerische Interpretation einer künstlerischen Interpretation.“ Solche Hinweise braucht es. Auf Twitter fragte im vergangenen Sommer ein Nutzer allen Ernstes, wie Voshart denn zu Fotos der echten Kaiser komme. Fassungslos betonte der Grafiker, er könne nicht sagen, wie diese Menschen wirklich ausgesehen haben: „Jeder Schritt hin zum Realismus ist ein Schritt weg von fundierten Fakten.“ Daher legt Voshart von manchen Kaisern auch unterschiedliche Rekonstruktionen vor und erläutert vorbildlich und minuziös, welche Daten welche Rekonstruktion beeinflusst haben.
Hüten wir uns also, auf unseren Münzen erkennen zu wollen, worin diese von dem vermeintlich echten Bildnis abwichen. Das wäre ein Zirkelschluss, denn Vosharts Rekonstruktionen beruhen ja auch auf eben diesen Münzbildern.
Vosharts Bildnisse regen die Fantasie an, sie helfen uns dabei, uns von dieser sterilen weißen Idealisierung der Herrscher Roms zu lösen, die wir vermutlich alle im Kopf haben: die Locken des Augustus, der gepflegte Vollbart des Hadrian. Bei Voshart sehen wir teils hipsterähnliche Typen, vor allem aber die bunte Welt der Kaiser. Sie waren keineswegs alle „Römer“, sondern kamen aus unterschiedlichen Teilen des Reichs. Anfangs hatte Voshart sich auf antike Texte von einer Website gestützt, die offensichtlich nazistisch geprägt war und die römischen Kaiser arisch zu weißen und blonden Prachtexemplaren stilisiert hatte. Als ihn ein italienischer Archäologe darauf aufmerksam machte, nahm Voshart korrekte Übersetzungen und verbesserte diesen Fehler in der zweiten Auflage seines Posters.
Wer seinen Blick über das Panoptikum von Roms Cäsaren schweifen lässt, schaut auch seine Münzen mit anderen Augen an. Denn so könnten die Kaiser ausgesehen haben, es gibt für jede der Rekonstruktion gute Gründe und der beste ist: Sie sind ein Angebot zur Diskussion, das einige Historiker und Archäologen schon angenommen haben. Vosharts Projekt holt die Halbgötter in weißem Marmor von ihren Sockeln. Für die Altertumswissenschaft ist das ein Gewinn.
Hier kommen Sie zu Daniel Vosharts „Roman Emperor Project“. Auf den verschiedenen Unterseiten finden Sie detaillierte Angaben zur Rekonstruktion jedes einzelnen Kaisers.
Immer wieder neue Kommentare liefert Voshart in seinem Twitter-Profil.
Wenn Sie sich für den technischen Hintergrund interessieren, sollten Sie diesen Artikel bei Popular Mechanics lesen.
Und falls Sie das Poster mit den Rekonstruktionen kaufen möchten, schauen Sie in den Etsy-Shop des Grafikers.
Der Wrestler André the Giant interpretierte 1987 übrigens den gutmütigen, aber starken Riesen Fezzik im Fantasyfilm „Die Braut des Prinzen“. In dieser Zweikampfszene sehen Sie den Hünen in Aktion.